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Ludger Fischer
Kunsthistoriker
FH Aachen
Informationsromantik
Die Welt muß digitalisiert werden.
Wahrscheinlich liest das hier kein Mensch. Durchschnittlich findet jeder Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift weniger als einen Leser. Das wird mit ungedruckten, nur digital verbreiteten Texten nicht wesentlich anders sein. Was allerdings anders ist, sind die Möglichkeiten zur Einsicht alles dessen, was im digitalen Netz angeboten wird für die, die einen Zugang dazu haben. Das sind prinzipiell alle Menschen, unabhängig davon, an welchem Ort sie sich aufhalten. Der Demokratie werden Flügel verliehen, sie feiert Siege ohne Kampf und exclusive Informationen sind nur noch im Heimatmuseum für ehemaliges Herrschaftswissen zu besichtigen. Jeder kann (wenn er will) immer über alles umfassend unterrichtet sein. Er kann!
Damit sind wir beim Haupt- und Schlüsselbegriff der romantischen Computerwelt, der Möglichkeit. Wie für alle echten Romatiker, ist auch für die Netzwerkpoeten die Möglichkeit entschieden wichtiger, als die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist immer nur eine einzige verwirklichte Möglichkeit. Ihr stehen unendliche Möglichkeiten gegenüber, deren Verwirklichung noch aussteht. Die wirklichen Möglichkeiten sind banal, pragmatisch, abschätzbar und meist abhängig von der Lösung technischer Probleme. Von möglichen Wirklichkeiten dagegen gibt es unendlich viele, sie potenzieren sich und sind damit im ursprünglichen Sinn romantisch.
Weniger ursprünglich wird "Romantik" zwar mit Idylle verwechselt, ihr Kern liegt aber auch heute noch, zweihundert Jahre nach Novalis, in dieser Potenzierung und jetzt wird's kompliziert. Romantisieren ist nämlich, um ihren Hauptpoeten Novalis zu zitieren, "nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. [...] Romantische Philosophie ... Wechselerhöhung und Erniedrigung". (Schriften, Krit. Neuausgabe, Berlin 1901, Bd. II. S. 304.)
Das hat der Dichter sich zwar nicht selbst ausgedacht, aber immerhin entschieden deutlicher formuliert als sein philosophierender Freund Friedrich Schlegel, der da meinte "das Vermögen der in sich zurückgehenden Tätigkeit, die Fähigkeit, das Ich des Ichs zu sein, ist das Denken. Dies Denken hat keinen anderen Gegenstand als uns selbst." (Philosophische Vorlesungen aus den Jahren 1804 bis 1806, Bonn 1846, S. 23.)
Wie Johann Gottlieb Fichte diesen Sachverhalt des gesetzten Ich und der davon ausgehenden unendlichen Reflexion beschrieb, will ich hier schon lieber nicht mehr zitieren. Klar wird immerhin das romantische Prinzip der unendlichen Reflexion. Jede Reflexion ist Gegenstand erneuter Reflexion. Praktisch wird auf diese Weise Sinn in die Welt gesetzt: "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romatisiere ich es." (Novalis, a.a.O.)
Da die Leser dieser Zeilen bei allen Zitaten und Begriffen immer einen Netzwerk-Bildschirm vor Augen hatten, muß ich den Bezug zur Netzkultur nicht ausführlich erklären. Das romantische Netz des Informationsaustauschs bleibt, wie jedes echt romantische Kunstwerk, prinzipiell fragmentarisch, unvollendbar und ... ironisch.
Als echte Romantiker empfinden auch Netzwerker nicht die Möglichkeit als leer, sondern die Wirklichkeit, so daß sie nach fast zweihundert Jahren, vielfach ohne es zu wissen, der Aufforderung des Dichters Novalis folge leisten:
Die Welt muß romantisiert werden.
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